"Klowände des Internets" - Weblogs und öffentliche Meinungsbildung

Die Auflagen der klassischen Tageszeitungen kränkeln oder befinden sich im freien Fall. Fernsehen, Radio und immer mehr auch das Internet werden zu den primären Informationsquellen der Konsumenten. Blogs (web logs oder Internet-Tagebücher) boomen. Nicht zur Freude aller.

Dank den äusserst niedrigen Markteintrittskosten ist es heute für jedermann möglich, eine Story blitzschnell zu publizieren – das Einrichten eines Weblogs ist dank diversen Anbietern [1] ohne eigene Infrastruktur und ohne grosse technische Kenntnisse sogar kostenlos möglich. Wer heutzutage eine Meinung hat, kann diese sofort und ohne Kontakte zu den Medien publizieren. Wer breaking news berichten will, stellt diese online, ohne auf die Gatekeeper in den Medien angewiesen zu sein. Seit einiger Zeit ist dies über sogenannte vlogs oder Video-Blogs sogar audiovisuell möglich [2]. Der einzige Haken an der Sache: nicht jedermann schafft es, genügend Leser anzuziehen, um in der öffentlichen Debatte gehört zu werden. Willkommen auf dem freiem Markt!

Dieser Text wurde ursprünglich am 06.02.2006 auf der mittlerweile eingestellten Seite liberty.li/choices.li veröffentlicht. Das Original ist offline. Die Wiederveröffentlichung erfolgt im Sinne des Fair Use unter der GNU FDL 1.2 Lizenz.

Dies ist eine wunderbare Entwicklung für all jene, die gerne lesen oder etwas zu sagen haben. Und diese Entwicklung ist keine Bedrohung für die klassischen Printmedien. Sie könnten von dieser neuen Form des Wettbewerbs profitieren. Unglücklicherweise fühlen sich viele Vertreter der etablierten Medien von der Konkurrenz bedroht – die eigentlich gar keine ist. Anstatt ihre Lektionen zu lernen (z.B. durch die Rückkehr zu einem lebhaften Meinungsjournalismus, durch die Abkehr von einer zensorischen political correctness, durch eine Konzentration auf einen kompromisslosen Investigativjournalismus oder durch einen Fokus auf eine lokale Berichterstattung), verbringen sie ihre Zeit damit, die neue Medienwelt zu geisseln und ihren Niedergang lautstark zu beklagen. Ein immer dann wiederkehrendes Lamento, wenn ein neues Medium auf dem Markt erscheint. Das war schon damals der Fall, als das Radio seinen Siegeszug antrat, und es wiederholte sich bei der Einführung des Fernsehens. Heute nun ist das Internet mit all seinen Möglichkeiten und Chancen die Zielscheibe des nie versiegenden Lamentos.

Ohne Zweifel, wir erleben gerade einen neuen Wilden Westen in der Medienlandschaft. Vorbei die kurze Zeit, in der sich die Konsumenten ausschliesslich über eine Handvoll Zeitungen und ein beschränktes Angebot an öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehstationen informieren mussten.

„Klowände des Internets“

Es wäre wünschenswert, wenn sich die etablierten Medien hinsetzen und die Ärmel hochgekrempeln würden, um ihre Lektion zu lernen: Rückkehr zu einem vielleicht altmodischen, aber lebhaften und fairen Journalismus. Dieser konzentriert sich auf die lokale Berichterstattung und auf das Finden und Schreiben von heissen Stories. Kurz, ein Journalismus, der den offiziellen Stellen Kopfschmerzen bereitet und seine Kontrollfunktion im öffentlichen Diskurs wieder wahrnimmt. Der selbst herbei geschriebene angebliche Niedergang ist ein typisches „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“-Phänomen. Eine gewisse Arroganz und Unfähigkeit, die neuen Möglichkeiten zu nutzen und zu integrieren, spielt sicherlich ebenfalls eine Rolle.

Doch stattdessen gibt man sich der Klage hin. Zuerst wurden die neuen Formen der Berichterstattung schlichtweg ignoriert mit der Begründung, es handle sich um schlecht gemachten, weil hausbackenen Journalismus ohne Informationsgehalt. Dabei verhält es sich mit Blogs wie mit allen anderen Medien auch: wer nicht die gewünschte Qualität liefert, verschwindet vom Markt. Trotzdem verfolgten viele etablierte Medien über Jahre hinweg den Drudge Report [3] und nutzten diesen offen oder verdeckt als Quelle. Dieses Onlineportal für Klatsch und Tratsch brachte z.B. die „Lewinsky-Affäre“ erst ins Rollen. Heute nun wagen sich immer mehr auf das Terrain der Blogs und Foren im Internet hinaus – mit wechselndem Erfolg jedoch. Während viele Unternehmen bereits den Wert von Blogs als Instrument zur Positionierung von Expertenwissen erkannt haben [4], tun sich die Medien immer noch schwer. Exemplarisch ist die vor kurzem vorgenommene Abschaltung der Kommentarfunktion im Blog der Washington Post. Die offizielle Begründung war das Überhandnehmen von Pöbeleien. Doch mit der Abschaltung der Kommentarfunktion beraubte sich der Blog nur seiner eigentlichen Funktion, dem direkten Kontakt mit den Lesern.

Auch in Deutschland ereignete sich jüngst ein „Lehrstück über die wachsende Macht der Online-Community“ (so Spiegel Online [5]). Was war geschehen? Der in Deutschland arbeitende Schweizer Werber Jean-Remy von Matt, der sich für die heiss diskutierte „Du bist Deutschland“-Kampagne verantwortlich zeichnete, ereiferte sich in einer privaten E-Mail an seine Kollegen über die negativen Reaktionen aus der Blogosphäre. Er bezeichnete Weblogs gar als „Klowände des Internets“. Der Zorn von Matts gipfelte in der Aussage, „was berechtigt eigentlich jeden Computerbesitzer, ungefragt seine Meinung abzusondern?“ Diese Mail sickerte dank der Weiterleitungsfunktion umgehend in die Blogszene durch. Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten. Das lautstarke Feedback der Blogger dürfte von Matt überrascht haben, sah er sich doch genötigt, eine Art Richtigstellung zu verfassen. „Wer einen Fehler macht, sollte sich entschuldigen“, schreibt der Werber. „Wer austeilt, muss auch einstecken können.“ Es tue ihm leid, dass Recht auf freie Meinungsäusserung in Frage gestellt zu haben: „Ich hatte mich halt aufgeregt!“. Spiegel Online sieht darin eine „virale Kraft der Blogosphäre“ und beendet den Beitrag über die Auseinandersetzung mit einer nüchternen Feststellung. „Was die Klickzahlen betrifft, können es Weblogs zwar nicht einmal mit Regionalzeitungen aufnehmen, geschweige denn mit überregionalen Angeboten. Aber es kommt eben nicht nur auf die blosse Zahl der Leser an.“

Heute hat der Konsument – unabhängig von seinen Ansichten und seiner Ausrichtung – die Wahl. Die Medienlandschaft ist zu einem Markt der Konsumenten geworden. Wer entlang gemäss Präferenzen informiert werden will, wird fündig. Fündig allerdings häufig bei nicht-etablierten Formen der Berichterstattung. Die Suche nach dem Begriff „Atomstreit Iran“ auf Google z.B. Ergibt 944'000 deutsche Ergebnisse. Die Beta-Version der Blogsuche auf Google.de [6] spuckt immerhin schon 126 deutsche Einträge aus.

Die schöne neue Medienwelt gestaltet sich so, dass die Leser heute viel mehr erhalten als früher. Sie können sich in einem kompetitiven Umfeld des konstanten news-breaking bewegen und informieren. Die klassischen Printmedien bewältigen dabei nach wie vor den Löwenanteil. Sie leisten einen Grossteil der Berichterstattung in die Tiefe. Ihre Kommentarspalten ermöglichen eine detaillierte Meinungsbildung. Die Blogs hingegen bieten eine aktuelle Berichterstattung nahezu in Echtzeit und nehmen eine gewollt subjektive Kommentarfunktion in unterhaltsamer Weise wahr. Nicht umsonst nennt sich der wohl erfolgreichste deutschsprachige Blog „BILDblog“ [7] und widmet sich einzig und allein der tagesaktuellen Kommentierung der grössten Tageszeitung Europas.

Ein neues „goldenes Medienzeitalter“

In den USA sind die etablierten Medien in ihrer Auseinandersetzung mit den neuen Realitäten etwas weiter als in unseren Breitengraden. Ein möglicher Lösungsansatz bietet dort der sogenannte participatory journalism: der Leserschaft wird die Möglichkeit geboten, Artikel nach Wikipedia-Art zu bearbeiten und zu kommentieren. Zwar ging das Experiment bei der Washington Post tüchtig daneben, mittlerweile profitieren aber vor allem Regionalzeitungen und regionale Newsportale von dieser Form des „eingebunden Journalismus“. Während die User Lokales in einen globalen Kontext stellen und umgekehrt aus Weltnachrichten lokale Bedeutung herausfiltern, müssen die Journalisten gewissermassen nur noch Moderator spielen.

Uns erwartet ein neues goldenes Medienzeitalter. Nicht unähnlich der Zeit, als die Zeitungen, einem heftigen Konkurrenzkampf ausgesetzt, mehrmals täglich erschienen und die Journalisten an jeder Strassenecke auf eine neue Story lauerten. Nur mit dem Unterschied, dass die Journalisten heute nicht mehr an der Strassenecke, sondern am Computerbildschirm lauern müssen.

Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich auch für die etablierten audiovisuellen Medien ab. Das schnelle Wachstum des Satelliten-TV und -Radios bringt Bewegung in den Markt. Auch hier wird in Zukunft der Konsument bestimmen und die Grenzen des Wachstums werden allein die technischen Kapazitäten setzen.

In der neuen Medienwelt ist Platz für alle: für einen boomenden Zeitungsmarkt, der Hintergrund- und lokale Berichterstattung bietet, lokale, nationale und internationale TV- und Radiostationen, Magazine und Zeitschriften und eben auch für eine florierende Blogosphäre. Bestimmend ist nicht das Medium, sondern der Inhalt, der transportiert wird.

Der Schlüssel dazu ist der sogenannte Content. Wer immer die Inhalte bietet, die der Konsument wünscht, wird prosperieren. Wer das nicht kann oder will, verschwindet vom Markt. Wettbewerb fordert immer die alte Garde der Etablierten heraus, zwingt sie zu Veränderungen. Am Ende profitieren alle. Nur die Selbstbemittleider und die Ankläger, diejenigen also, die sich der Veränderung widersetzen, gehen unter.

Anmerkungen

[1] Eine Auswahl:

  • myblog.de
  • blog.de

[2] Eine Auswahl:

  • ehrensenf.de
  • rebell.tv
  • rocketboom.com

[3] drudgereport.com

[4] Vgl. «Bloggen für den Erfolg – Weblogs als Marketinginstrument»

[5] Spiegel Online; die Kontroverse im Blog von Jens Scholz:

  • Link 1
  • Link 2

[6] Google Blogsearch

[7] bildblog.de

[8] New West

choices.li, liberty.li, medien, medienwandel

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