Barlow: "Keine Materie im Cyberspace"
Vorratsdatenspeicherung, #zensursula, ACTA, rechtsfreier Raum. Diese Schlagworte machten und machen im Netz und in den Holzmedien die Runde. Sie stehen für den Willen der Internetausdrucker, nach der realen nun auch die virtuelle Welt zu regulieren, zu kontrollieren. Die Mächtigen des Meatspace wollen ihren eisernen Griff endlich auch im Cyberspace durchsetzen - mit allen Mitteln. Dieser Backlash, dieser "Angriff der Antimoderne auf selbstbestimmtes Leben" (Zeger 2008: 33) begann nicht erst mit 9/11 und der darauf folgenden Terrorismusangst. Seine Wurzeln liegen tiefer.
Schon immer war es das Ziel des Herrschaftsapparats, die Individualität mittels Identifikation zu zerstören. Die Reduktion auf eine Nummer, einen Datensatz reduziert das Individuum zur anonymen Manipuliermasse, mit der nach belieben verfahren werden kann. Moderne Informatikmittel erleichtern das Sammeln von und den Zugriff auf eben diese Datensätze. Fatal wirken sich dabei die vielfältigen Analyse- und Verknüpfungsmöglichkeiten aus: Bürger A hat zum Zeitpunkt B mit "Terrorist" C kommuniziert, also ist A ebenfalls ein "Terrorist". Dies ist die dunkle Seite der Informatik und des Cyberspace. Sie haben dem modernen Präventivstaat, der sich meist nur noch graduell von seinem totalitären Bruder unterscheidet, erst möglich gemacht.
Von der Unabhängigkeit des Cyberspace
Einer hat das schon früh erkannt. Der amerikanische Autor, Bürgerrechtler und einer der Gründer der Electronic Frontier Foundation (EFF), John Perry Barlow (Bild: Wikimedia Commons). Anlässlich des World Economic Forums* verlas er am 8. Februar 1996 seine "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" (A Declaration of the Independence of Cyberspace). Darin antizipierte er viele der Entwicklungen bis heute und versuchte, diesen mit radikalen Forderungen entgegenzutreten:
"Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr.
Wir besitzen keine gewählte Regierung, und wir werden wohl auch nie eine bekommen - und so wende ich mich mit keiner grösseren Autorität an Euch als der, mit der die Freiheit selber spricht. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir errichten, als gänzlich unabhängig von der Tyrannei, die Ihr über uns auszuüben anstrebt. Ihr habt hier kein moralisches Recht zu regieren noch besitzt Ihr Methoden, es zu erzwingen, die wir zu befürchten hätten."
Es ist dieses "Kammerstück" (Telepolis), diese "Ursuppe, aus der alle löffeln, die immer wieder grosse Hoffnungen in das Internet setzen" (heise online). Barlow wurde mit diesem Text gewissermassen zum "Thomas Jefferson of cyberspace" (Reason Magazine). Lesen bildet bekanntlich auch im Internet, darum: Lesebefehl!
Literatur
Zeger, Hans G. (2008): St. Pölten - Salzburg. » meine Rezension
* Bereits damals sorgten einige Geschäfte für Aufsehen, etwa der Einstieg von Bertelsmann bei AOL 1995. Konsequenterweise lud das WEF 1996 auch Risikokapitalgeber und einige Akteure aus dem Cyberspace ein.
Video-Intereview
Hier ein rund 9-minütiges Video-Interview, welches für den BBC-Vierteiler "The Virtual Revolution" gedreht wurde_
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