Serres: "Auslagerung des Kopfes"

Michel SerresIn keinem anderen Land in Europa - nicht einmal in Deutschland - wird derzeit derart heftig um die Freiheit im Internet gekämpft wie in Frankreich. In der Grande Nation sind die Verhältnisse anders, eben noch klar geordnet: Der Aufklärung und der Revolution zum Trotz existiert in diesem Land noch immer eine Elite, die, dank den nach wie vor umfangreichen Machtpositionen, wie ein Löwe um ihre bisherige mediale Deutungsgewalt kämpft. Unisono singt die Regierung Sarkozy gemeinsam mit den linken Intellektuellen das ewig gleiche Lied des dreckigen Internets, welches "gesäubert" werden müsse (Alain Finkielkraut).

Was da tobt, ist aber nicht nur das letzte Rückzugsgefecht einer pseudo-egalitären Elite, sondern viel mehr auch ein Kampf der Generationen. Die arrivierten, entweder im Staatsdienst oder in staatlich sanktionierten geschützten Werkstätten fett gewordenen Alt-68er (dabei spielt es keine Rolle, ob sie damals Bewegte oder Spiesser waren - alle machen sie nun gemeinsame Sache) auf der einen Seite stehen den Nachgeborenen gegenüber. Vordergründig geht es um Urheberrechte und Diskussionskultur. In Tat und Wahrheit geht es aber um Privilegien, Pfründe und Macht, an die man sich mit aller Kraft klammert und mit allen Mitteln verteidigt. Bestes Beispiel ist Frédéric Mitterand, Kultur- und Kommunikationsminister und Neffe des früheren Staatspräsidenten François Mitterand, der sich erst auf massiven Druck aus dem Internet bemüssigt fühlte, sich über seinen Verkehr mit Strichjungen in Thailand zu rechtfertigen. Man stelle sich vor, ein deutscher oder englischer Minister - von den USA ganz zu schweigen - würde mit dem Vorwurf konfrontiert, in Thailand Umgang mit Strichern gehabt zu haben. Da ist schon mancher wegen weniger zurückgetreten.

Eine angenehm andere Stimme in dieser schmutzigen Kampagne stellt da der achtzigjährige Philosoph Michel Serres (Bild: Wikimedia Commons) dar. Die FAZ zitierte ihn wie folgt:

"'Das Internet erleichtert uns das Leben', schwärmt der achtzigjährige Michel Serres. In jungen Jahren hatte der Philosoph den Durchbruch des neuen Mediums Radio erlebt. Auch Serres kommt leicht ins Schwimmen, wenn er die Zukunft der vernetzten Gesellschaft beschreiben soll. 'Ich bin nicht sicher, dass das Buch tot ist, aber jene, die es beweinen, erinnern mich an die Sorbonne-Professoren, die Lateinisch sprachen und den Buchdruck bekämpften, weil sie um ihre Macht fürchteten.' Vor Gutenberg waren die Studenten gezwungen, die Werke auswendig zu lernen. 'Der Buchdruck hat unser Gedächtnis zerstört, auf der Festplatte hat es wieder einen Ort gefunden.' Serres nennt es die 'Auslagerung des Kopfes'. Heute hat jeder einen Drucker zu Hause. Das Internet, ahnt Michel Serres, wird die Gesellschaft radikaler verändern, als es der Buchdruck vermochte. Er vergleicht seinen Durchbruch mit der Erfindung der Schrift, als unsere Geschichte begann."

Der klare Blick auf die Realität kommt nicht von ungefähr. Serres, Professor für Philosophie sowohl an der Sorbonne wie auch in Stanford, entwickelte auf der Basis des Informationsmodells von Claude Elwood Shannon und beeinflusst durch kybernetische Ansätze eine eigene Kommunikationstheorie: In seiner Theorie rückt Serres den Boten in den Mittelpunkt. Dieser Bote wird teilweise als Parasit und teilweise als Joker für den Akt der Kommunikation beschrieben. Aufgegriffen hat diesen Ansatz z.B. in der soziologischen Systemtheorie u.a. Niklas Luhmann.

Philosoph der Kommunikation und des Internets

Für Serres verlangt das "Verbrechen der Wissensmonopolisierung" heute in der Informationsgesellschaft nach Wiedergutmachung. Diese kommt jedoch nicht wie bis anhin in der tradierten hierarchischen Gesellschaft üblich von oben nach unten, sondern von aussen nach innen, von den Rändern, der Peripherie her. Im Endeffekt also von all jenen, die erst dank den neuen Technologien Zugang zum Wissen bekommen haben.

Serres ist der Überzeugung, dass die freie Zirkulation des Wissens sich nicht (mehr) durch Urheberrechte zügeln lässt. Das Potenzial der Technik wird immer voll ausgeschöpft werden. Was möglich ist, wird früher oder später realisiert - und sei es durch Piraterie. Globale Netzwerke werden die bestehenden Unterschiede in der Wissensverteilung aufheben; und mit ihnen auch die politischen Ungleichheiten. Diese Meinung vertrat Serres bereits 2001 in einem Interview mit Telepolis.

Wer übrigens des Französischen mächtig ist, findet hier eine Videoaufzeichnung einer Rede Serres', welche er 2007 anlässlich einer Konferenz zum Thema "Les nouvelles technologies : révolution culturelle et cognitive" gehalten hat. Seine Kernbotschaft lautete: "Les nouvelles technologies nous ont condamnés à devenir intelligents!"

Literatur

  • Shannon, Claude Elwood und Weaver, Warren (1949): . Urbana (University of Illinois Press), deutsche Ausgabe (1976): . München (Oldenbourg).
  • Serres, Michel (1980): Le parasite, Paris (Grasset), deutsche Ausgabe (1981): , Frankfurt/M (Suhrkamp).
  • Serres, Michel (2008): , Berlin (Merve).

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